The Wahn goes on

Die Leitartikler der großen deutschen Tageszeitungen ergehen sich dieser Tage wieder in hanebüchenen Mutmaßungen über die Gründe der europäischen Krise. Dass das herrschende Geldsystem auf Gedeih und Verderb den Zwang zum Wirtschaftswachstum beinhaltet, in einer endlichen Welt jedoch kein unendliches Wachstum möglich ist, auf diesen simplen Gedanken kommen sie nicht und somit auch nicht auf die Zusammenhänge des Geldsystems und die Tatsache, dass wir in einem gigantischen Schneeballsystem gefangen sind. Kluge Gedanken hat sich Harald Welzer zum selbstmörderischen Wachstumszwang und den „Perspektiven der Überflussgesellschaft“ gemacht:

„Endlichkeitskrisen sind von einem System, dessen Funktion vom Wachstum abhängt, nicht zu bewältigen – im Gegenteil sind sie Symptome, die das Scheitern der Voraussetzungen anzeigen, auf die das System gebaut ist. Tatsächlich sind alle Gegenwarts- und Zukunftskrisen, mit denen moderne Gesellschaften konfrontiert sind, Symptome dafür, dass unser System einer vorbehaltlosen Übernutzung natürlicher Ressourcen an eine Funktionsgrenze gekommen ist. Dieses 250 Jahre lang extrem erfolgreiche System basiert ökonomisch darauf, dass es den Treibstoff zur unablässigen Produktion von Mehrwert und Wachstum von außen bezieht, wie das Öl, das für die Herstellung und den Betrieb der Autos oder wie das Gas, das für die gemütlich warmen Badezimmer nötig ist. In dem Augenblick, wo sich dieses immer nur partikular gedachte Wirtschaftsprinzip universalisiert, wird seine Funktionsgrenze offensichtlich: Eine globalisierte Welt hat kein Außen, das die Ressourcen für die als unendlich gedachte Wachstumswirtschaft liefern könnte. Die Folge ist, dass sich die Ausbeutung vom Raum in die Zeit verlagert: der Kollaps des Systems wird hinausgeschoben, in dem es Raubbau an der Zukunft der kommenden Generationen treibt. Deshalb werden nicht nur im Rahmen der Finanzkrise die Probleme durch Schuldenmachen bewältigt: Auch bei der Umwelt, bei den Meeren, beim Klima nimmt die heutige Generation Kredite auf, die ihre Kinder und Enkel zu begleichen haben werden. Da es sich bei dieser Art von Kreditaufnahme aber um die Erzeugung irreversibler Probleme handelt, bedeutet das Servieren der Rechnung für die Kinder- und Enkelgenerationen, dass ihnen nicht mehr dieselben Chancen zur Gestaltung ihrer eigenen Zukunft zur Verfügung stehen, wie der Generation der heute 50- oder 60jährigen. Der Generationenvertrag ist radikal gebrochen; das Motto des 21. Jahrhunderts lautet: „Unsere Kinder sollen es mal schlechter haben als wir!“ (…)

Dabei ist weder die Menschheitsgeschichte noch die der Produktivkräfte eine Geschichte unablässigen Wachstums – bis zur Industrialisierung lag es bei geschätzten 0,05 Prozent jährlich. Unter solchen Bedingungen haben Wissenschaft und Künste, wie jedes kunsthistorische Museum vorführt, spektakuläre Fortschritte erzielt. (…)

[Die Frage ist], ob man Teil jener Generation gewesen sein möchte, die den Planeten ruiniert hat, weil sie dumm und ungeprüft Glaubenssätzen von Wachstum, Fortschritt und Wettbewerb gefolgt ist, ohne zu prüfen, wie weit sie tragen – oder ob man Teil jener Generation gewesen sein möchte, die die Zeichen der Zeit erkannt und noch rechtzeitig umgesteuert hat.“

Harald Welzer: Perspektiven der Überflussgesellschaft, in: Deutschlandradio, 1.1.2010

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Büchertips aus guten Verlagen zum Verstehen der Krise:

Helge Peukert: Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise: Eine kritisch-heterodoxe Untersuchung

Bernd Senf: Der Tanz um den Gewinn: Von der Besinnungslosigkeit zur Besinnung der Ökonomie – Ein Aufklärungsbuch

Ulrich Thielemann: System Error: Warum der freie Markt zur Unfreiheit führt


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