Ende der Spaßgesellschaft?
2016 und die Zeitenwende in Europa

Wenn infolge des Anschlags in Berlin der Ruf nach mehr Polizei, Videoüberwachung und Befugnissen für Geheimdienste laut wird und demnächst entsprechende „Sicherheitsgesetze“ verabschiedet werden, setzt sich eine Politik fort, die den Insassen der (westlichen) Industriegesellschaften bereits seit dem September 2001 das Klima vernebelt und im „Krieg gegen den Terror“ längst ihren paradigmatisch-perversen Kristallisationspunkt gefunden hat. Dass die westliche Außenpolitik den islamistischen Terror nicht bekämpft und verhindert, sondern fördert und ihm mit ihrem eigenen Terror erst zum Entstehen verhilft, ist offensichtlich. Was den Nahen und Mittleren Osten, Russland und den Westen angeht, lässt sich dies mindestens 100 Jahre zurückverfolgen – erwähnt seien nur das Sykes-Picot-Abkommen, auf das sich noch heute IS-Kämpfer als Grund ihres Kampfes berufen, der CIA-Putsch im Iran, die Aufrüstung Saddam Husseins und der Taliban, die Kriege in Afghanistan, Irak und Libyen oder die Aufrüstung von „Rebellen“ in Syrien.

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Der folgende Jahresrückblick wurde vor den Anschlägen in Berlin verfasst.

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Das Jahr begann mit einer perfekten Inszenierung der Angst. In München veranstaltete man in der Silvesternacht am Hauptbahnhof einen Terroralarm, während es am Hauptbahnhof in Köln zu Straftaten mutmaßlicher Migranten kam. Endlich war damit für die Leitmedien der Zeitpunkt gekommen, hinsichtlich der Flüchtlinge befreit proklamieren zu können, dass „die Stimmung kippe“ und die Willkommenskultur am Ende sei. Wochenlang war nun jede Straftat eines Nicht-Biodeutschen Titelschlagzeilen wert, genüsslich wurde das Pegidafeindbild des wilden Orientalen geschürt, der, wenn er sich nicht gerade in die Luft sprengt, Frauen vergewaltigt, stiehlt und (den Sozialstaat) betrügt. Tägliche Mordanschläge auf Flüchtlingsheime verkamen da zur Randnotiz – Terror von rechts war für die deutschen Eliten noch selten ein Problem.

Viel gelegener kam, dass es im März in Brüssel Terroranschläge mit mutmaßlich islamistischem Hintergrund gab. Das Klima der Angst und Mobilmachung konnte aufrechterhalten werden, und erst im Frühsommer hatte sich pünktlich zur Fußball-EM die deutsche Medienlage beruhigt. Auf den Titelseiten wurde wieder elementaren Fragen von falscher Neun und Dreierkette nachgegangen, wobei vor der EM selbst in den scheinbar harmlosen deutschen Fußballdiskurs ein Teil schmutziger Realität eingesickert war. Jerome Boateng hatte sich als falscher Nachbar rechtfertigen müssen, der Neuen Rechten erschien die Nationalmannschaft von undeutschem Blut verunreinigt, dessen man sich schämen müsse, das man ausmerzen müsse. Während Positionen der AfD in den „Qualitätsmedien“ reichlich Debattenplatz bekamen, wurde von selbigen weitgehend totgeschwiegen, dass im EM-Gastgeberland Frankreich parallel zu den Millionen von den Teleschirmen Narkotisierten auch Millionen Lebendige auf die Straße gingen, um für eine Gesellschaft zu demonstrieren, die dem Hokuspokus des Spektakels ein Ende macht.

Nuit Debout Paris von Olivier Ortelpa (CC BY 2.0)
Nuit Debout Paris von Olivier Ortelpa (CC BY 2.0)

Diese Demonstrationen wurden von der Polizei in landesweiten Schlachten erfolgreich niedergeschlagen, doch noch im selben Monat ereilte das politisch-mediale Establishment ein nicht wegzuknüppelnder Schock: Die Briten hatten sich am 23. Juni dafür entschieden, in die Illusion eines souveränen Nationalstaats zurückzugehen. Des Weges war eine pro-europäische Parlamentarierin erschossen worden, und Brexit-Anführer Nigel Farage hatte im Wahlkampf seine wahre Fratze gezeigt, die andere scheinbare Volkstribunen wie Trump, Le Pen, Seehofer, Petry oder Orban bereits wirksam zur Schau gestellt hatten. Wie Georg Seeßlen und Markus Metz in ihrem großartigen Buch „Hass und Hoffnung“ konstatierten, wurde in Europa nicht nur für oder vor allem gegen, sondern mit den Flüchtlingen Politik gemacht.

Während also Rechtspopulisten, Eliten und Leitmedien auf Kosten der vor den Folgen Jahrhunderte langen europäisch-amerikanischen Empires, auf Kosten der vor Krieg, Ausbeutung und Abschlachtung unter größter Gefahr in Schlauchbooten über das Mittelmeer gefahrenen Schutzbedürftigen schaurige Rendite machten, zu Mordanschlägen, Terror und Spaltung hetzten, Angst und Hass schürten und dabei perfide den Anwalt des Gerechten spielten, während in Europa neue Lager für die Geflohenen und Entrechteten errichtet wurden, in denen diese hinter Stacheldraht vor Angst, Krankheit und Ungewissheit erfroren, während von Polizei, Militär und Frontex abgefangen, abgeschoben, eingesperrt und ertrinken gelassen wurde, während weiter Bomben auf Syrien und den Irak fielen, weiter Waffen geliefert und verkauft wurden, um dem Schlachten und der Zerstörung ja keinen Einhalt zu gebieten, während wir fortfuhren, das Leben von Millionen zur Hölle zu machen, damit weiter Aktienkurse steigen, Dienstwagen anrollen und Smartphones verkauft werden, während englische und russische Hooligans in den Billigflieger stiegen, dort soffen, in Frankreich wieder ausstiegen, dort soffen und sich zum Spaß prügelten, während also eine komplett dekadente, erschöpfte und elendige europäische „Spaßgesellschaft“ ihren letzten Drink bestellte, waren die Vorboten des Wandels bereits da, zerfiel und zerfraß sich das morsche Gebäude Europa, das für seine Machteliten nie eine kulturelle, friedliebende, großzügige, solidarische, gerechte, ökologisch-soziale Idee gewesen war, sondern eine „Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, ein Industrie- und Wirtschaftsverein, eine EURO-Zone, in der es nur darum ging, „wettbewerbsfähiger“ zu werden – sprich die Eroberungen und Eroberungsfeldzüge auf dem globalen Markt abzusichern und erfolgreicher zu gestalten, das Kapital weiter bei den Wenigen zu akkumulieren, die Demokratie vollends abzuschaffen und in einer transnationalen, von Lobbyisten unterwanderten, nicht zur Rechenschaft ziehbaren Monsterbehörde zum Erliegen zu bringen und mit transnationalen (Handels-)Verträgen auch das Recht der Staaten zu brechen, damit der Herrschaft der Wenigen und ihrem Eigentum in Form der transnationalen Konzerne das Territorium gesichert werde, auf dass es kein demokratisches Entkommen mehr gäbe, auf dass jede Revolution durch Gewalt und Medien niedergestreckt werden könne, auf dass mit dem totalen Überwachungsstaat jeder Widerstand im Keim erstickt werden könne. Die vollständige Transformation des Menschen zum Konsumsklaven, dessen Gefühle und Gedanken nur noch kommerziell nutzbare Daten sind, ist das Ziel.

Doch eine Gesellschaft, in der „Gutmensch“ ein Schimpfwort ist und Werte im Finanzteil der Nachrichten besprochen werden, ist keine mehr. Eine Gesellschaft des Kriegs aller gegen alle, in der der andere nur Mittel zum Zweck ist, versucht aus der Chimäre des homo oeconomicus Realität zu machen und wird scheitern. Denn in die Blase des Wohlstands auf Kosten anderer bricht der Mut und die Verzweiflung der Ausgebeuteten ein, in dieser hält nichts mehr, weil soziale Bande schwach und verkümmert sind, in dieser findet der „Einbruch der Wirklichkeit“ (Kermani) fruchtbaren Boden, denn nach nichts sehnen sich die medialisierten Zombies der Wohlstandsverwahrlosung mehr, als zurück ins Leben zu kehren. Ein taumelndes Europa sieht sich in die Zeit vor hundert Jahren zurückversetzt, Geschichte wiederholt sich, nur anders, es drohen weitere Kriege, Spaltung und Schlachten, Mord und Barbarei.

Den Weg dafür bereitet haben (erneut) jene, die sich als liberal, aufgeklärt und demokratisch geben – oder dafür halten. Wie groß war das Geschrei, als Donald Trump im November die „Wahl“ in den USA gewann. Man müsse die Probleme und Sorgen der „Abgehängten“ nun „endlich ernst nehmen“! Es fragt sich: Wo waren jene in Deutschland über Trump so Entsetzten, als Sozialdemokraten und Grüne das Rentensystem der Versicherungsindustrie zum Fraß vorwarfen, den Spitzensteuersatz und die Steuern auf Kapitalerträge senkten und den Finanzmarkt deregulierten? Wo war der Aufschrei, als CDU, SPD und Grüne mit Steuermilliarden private Banken und ihre Eigentümer „retteten“? Wo waren die Entrüsteten, als Merkel und Schäuble den europäischen Staaten der „Peripherie“ ein Spardiktat aufzwangen, mit dem Millionen in Armut gestürzt, Europa gespalten und seine Bevölkerungen gegeneinander aufgehetzt wurden? Wo waren die Verteidiger der Demokratie, als eine linke griechische Regierung von Banken und Konzernen (aka IWF, Weltbank und EU-Kommission) vernichtet wurde? Und haben die über Trump so Empörten sich je darüber empört, dass unter Obama ein neues Atomwaffenprogramm aufgelegt wurde, sich im Vergleich zur Bush-Administration die Zahl der Drohneneinsätze verzehnfacht hat und Waffenverkäufe mehr als verdoppelt wurden? Dass die „Demokratien der freien Welt“ Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und dem Jemen führen oder unterstützen, denen Millionen zum Opfer gefallen sind?

Während das wohlmeinende Bürgertum nach Brexit, Trump (und demnächst womöglich le Pen) schockiert in den zerbrochenen Spiegel seiner Verblendung blickt – ohne daraus freilich irgendwelche ernsthaften Konsequenzen zu ziehen –, sind die neuen Nationalismen und Rechtspopulisten für die Eliten ein zweischneidiges Schwert. Sie stören das Programm der Entmachtung der europäischen Bürger durch supranationale Strukturen und setzen unkalkulierbare politische Energien frei. Zugleich sind Faschismus, Terror, Krieg, Chaos und die Feindbilder/Sündenböcke Islam und Flüchtlinge willkommene und erprobte Mittel, um die eigentliche Krise (des kapitalistischen Weltsystems) weiter verschleiern zu können. Die eigentliche Krise ist die eines gesamten Wirtschaftssystems, das nicht zukunftsfähig ist und dessen soziale Bindungskräfte schwinden. Konnte der Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen noch eine echte Erfolgsgeschichte erzählen und bestreiten, macht sich in den westlichen Gesellschaften zunehmend Frustration, Verunsicherung, Orientierungslosigkeit, Angst, Lähmung und Hoffnungslosigkeit breit. Die materiellen Märkte sind maßlos übersättigt und existieren nur noch durch Wegwerfen, Kreditkarten und Werbeindustrie. Die geistig-spirituell-sozialen Verbindungen diffundieren unter dem Diktat und Druck der Kommodifizierung aller Lebensbereiche. Und obwohl wir hundert Mal produktiver sind als vor hundert Jahren, ja obwohl das eigentliche Problem ein zu viel und kein Mangel ist – und freilich die obszöne Ungleichverteilung von finanziellem, kulturellem und sozialem Kapital diesen Zusammenhang ebenfalls negiert und verschleiert – leidet ein Großteil der Bevölkerung an „Stress“, Armut, Depression und Abstiegsängsten. Die wirklichen Bedürfnisse der Menschen nach Resonanz (Rosa) bleiben unbeantwortet, die Versprechen der Moderne verkehren sich ins Gegenteil, die Paradoxa und destruktiven Folgen des Systems ständiger Kapitalakkumulation treten immer deutlicher zu Tage.

Umso tragischer ist, dass es bis heute keine signifikante linke politische Bewegung gibt, die in der Lage wäre, eine alternative Erzählung anzubieten, die diese gewaltige geistig-emotionale Leere füllt. Zu umfassend scheint der moderne Mensch im globalen System des Kapitalismus und korrumpierter staatlicher Bürokratien verstrickt. Das eigentliche Drama und (scheinbare) Dilemma ist: Wir alle tragen Verantwortung und wir alle müssten eigentlich etwas ändern. Die wahren Gegner der Werte und Errungenschaften der Aufklärung sind nicht der IS, die AfD oder Donald Trump. Der wahre Gegner ist die Struktur des ökonomischen Systems, die wahren Gegner sind Google, Facebook, Black Rock, BMW, Glencore, Bayer/Monsanto & Co. Doch oh Schreck: Der wahre Gegner sind also letztlich auch wir selbst und ist unser Lebensstil. Und obwohl – beziehungsweise weil – fast jedem klar ist, dass es nicht so weitergehen kann, wie es weitergeht, befindet sich die gesamte Gesellschaft im Modus permanenter Verdrängung. Es ist das typisch autodestruktive Verhalten eines Suchtkranken. Weil das, was man tut, so krank ist, verdrängt man, dass es so krank ist. Erhöhung der Dosis. Lasst uns bei Primark shoppen gehen. Hurra.

Gleichwohl steckt in jeder Krise die Chance auf Wandel, und so werden diesmal vielleicht nicht die „Bösen, Dummen und Gemeinen“ (Seeßlen/Metz) obsiegen, sondern die Sehnsucht nach Brüderlichkeit, Freiheit und Resonanz. Wo, wenn nicht in Europa, sollte ein Kontinent der Brüderlichkeit Wirklichkeit werden können? Weder von Russland, der großen eurasischen Landmasse noch vom einstigen Zentrum und Ursprung seiner Kultur und Blüte, dem Mittelmeerraum, kann Europa sich trennen und abschotten. Und solange die Eliten eine Verschärfung der Probleme als vorgebliche Lösung der Probleme praktizieren („mehr Wachstum“), werden die Spannungen innerhalb des Systems zunehmen und wird die (Wohlstands-)Blase Europa platzen. So formt sich jenseits der neuen Rechten und alten Eliten ein Bewusstsein, das statt des Kriegs aller gegen alle für ein solidarisches Miteinander eintritt und aus dem herrschenden Wahn- und Machtsystem von Kapital, Politik und Medien aussteigen will. Von DIEM bis Podemos, von 5 Sternen bis Syriza, von Nuit Debout bis Blockupy gibt es Blüten des Aufbruchs in Österreich, Griechenland, Italien, Spanien oder Portugal. In England gibt es immerhin einen Jeremy Corbyn, in den USA gab es immerhin einen Bernie Sanders. Und selbst im sedierten Merkelland gingen Hunderttausende gegen TTIP auf die Straße und existiert eigentlich seit Jahrzehnten eine (von der SPD verratene) linke Mehrheit. Wie diese zu mobilisieren und politisch zu realisieren ist, bleibt die Gretchenfrage. Konkret zu tun, gibt es genug. „Was kann man schon tun“, ist eine faule Ausrede. Die Zeit bequemer Verantwortungslosigkeit ist vorbei. Es ist Zeit für das Ende von Zynismus und Ironie, es ist Zeit für eine Re-Politisierung. Es ist Zeit zu handeln. Leitlinien könnten sein: globale Gerechtigkeit und regionale Autonomie, ökologisch-soziales Wirtschaften in solidarischem Miteinander und kultureller Vielfalt. Gemeinwohlökonomie und direkte Demokratie statt Shareholder Value und Lobbykratie. Der Kampf dafür ist noch nicht verloren. Aber er muss jetzt beginnen.


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